Die internationale Journalisten-NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) hat ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eine „ernüchternde“ Bilanz gezogen. Das sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr am Donnerstag.
„Deutsche Behörden sind gescheitert, ihrer Verantwortung für ehemalige Ortskräfte, Journalistinnen und Journalisten sowie die engagierte Zivilgesellschaft aus Afghanistan angemessen nachzukommen“, so Mihr. Angesichts der Kaskade an Versäumnissen blieben viele Fragen: Wieso hatte sich die deutsche Regierung so schlecht auf die von vielen vorhergesagte Machtübernahme der Taliban vorbereitet? Warum schützte sie die Ortskräfte nicht, die zuvor für die Deutschen tätig gewesen waren? Was lief bei den Evakuierungen vom Flughafen Kabul schief? Mit diesen und weiteren Fragen wird sich nach der Sommerpause ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags befassen. „Wir begrüßen den Untersuchungsausschuss zu Afghanistan ausdrücklich und bringen uns selbstverständlich gerne bei der Aufklärung ein“, sagte Mihr. Der Ausschuss war von den Ampel-Parteien sowie der Union beantragt worden, hat sich am 8. Juli 2022 erstmals zusammengefunden und soll das nächste Mal im September tagen.
Inwiefern echte Aufklärung und Transparenz erreicht werden können, wenn zentrale Punkte geheim oder in nicht-öffentlicher Sitzung verhandelt werden, etwa bei Versäumnissen, die unter Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes bzw. des Militärischen Abschirmdiensts erfolgt sind, stellen Experten infrage. Klar sei schon heute, dass der Zeitraum, den der Ausschuss untersuchen will, mit dem 30. September 2021 deutlich zu früh endet, kritisiert RSF. Ein großer Teil der Fehler sei schließlich erst nach der Ankunft der Schutzbedürftigen in Deutschland, beispielsweise von Innenministerien, BAMF, Ausländerbehörden, Polizeien und vielen mehr begangen worden. Das Kommunikationschaos unter deutschen Behörden könne so nicht aufgearbeitet werden, und das, obwohl aus diesen Fehlern dringend Lehren für die Zukunft gezogen werden müssten. Auch die Arbeit der zu Afghanistan eingesetzten Enquete-Kommission verfolge man aufmerksam und hoffe auf zeitnahe und lösungsorientierte Ergebnisse, hieß es.
„Der parlamentarische Blick zurück ist wichtig, aber die Bundesregierung muss dringend nach vorne schauen und erklären, wie das von ihr versprochene Bundesaufnahmeprogramm umgesetzt werden soll“, so Mihr weiter. Dies brauche es, damit die Medienschaffenden und anderen gefährdeten Menschen, die nach wie vor in Afghanistan ausharren oder in Drittländern feststecken, endlich gerettet werden können. „Wir freuen uns, dass unsere Hinweise offensichtlich ankommen und auf höchster Ebene der politische Wille besteht, eine strukturierte Aufnahme afghanischer Journalistinnen und anderer Gefährdeter zu organisieren“, so Mihr. „Doch nun müssen Taten folgen“, forderte der RSF-Geschäftsführer.
Trotz der Ankündigung im Koalitionsvertrag, Willensbekundungen der zuständigen Ministerinnen sowie eines konstruktiven Austauschs zwischen RSF und Politik seien wichtige Fragen immer noch offen: Nach welchen Prioritäten sollen Schutzbedürftige ausgewählt werden? Wer soll die Verifikation übernehmen? Wie lässt sich Transparenz und Fairness garantieren? Wie soll die Zivilgesellschaft einbezogen sein? Wie soll die geplante Koordinierungsstelle besetzt sein? Werden gefährdete Personen sich niedrigschwellig melden können? Wie sollen die Evakuierungen logistisch ablaufen? Diese und weitere Details zum Bundesaufnahmeprogramm müssten schnellstmöglich geklärt werden, drängt die NGO.
Foto: Flughafen Kabul (dts)