Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen ist nach ihrem Höchststand im ersten Corona-Jahr 2020 im zweiten Jahr der Pandemie leicht gesunken. Das teilte das Statistische Bundesamt (Destatis) am Donnerstag mit.
2021 stellten die Jugendämter in Deutschland demnach bei über 59.900 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest. Das waren rund 600 Fälle oder ein Prozent weniger als im Vorjahr. Die Fälle, bei denen die Behörden nach Prüfung des Verdachts zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber einen Hilfebedarf festgestellt haben, stiegen gleichzeitig um knapp zwei Prozent (+ 1.100 Fälle). 2021 meldeten die Jugendämter fast 67.700 Fälle von Hilfebedarf. Im zweiten Corona-Jahr haben die Kindeswohlgefährdungen damit den zweithöchsten Wert seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 und die Fälle von Hilfebedarf einen neuen Höchststand erreicht. In den acht Jahren seit Beginn der Zählung bis zu ihrem Höchststand im Jahr 2020 sind die Kindeswohlgefährdungen um rund 22.300 Fälle oder 58 Prozent gestiegen, und zwar ab 2018 besonders stark. Ob das Jahr 2020 hier tatsächlich auch langfristig einen Wendepunkt markiert, ist derzeit nicht absehbar. So könnte sich zum Beispiel der zunehmende Verzicht auf Schul- und Kitaschließungen im zweiten Corona-Jahr 2021 positiv auf den Kinderschutz ausgewirkt haben. Andererseits haben vermutlich auch pandemiebedingte Zusatzbelastungen von Familien – etwa durch Existenzängste, begrenzte Freizeitmöglichkeiten und Distanzlernen – zum anhaltend hohen Niveau der Fallzahlen beigetragen. Nicht auszuschließen ist jedenfalls auch im zweiten Corona-Jahr, dass das Dunkelfeld durch die allgemeinen Einschränkungen gewachsen und ein Teil der Kinderschutzfälle unerkannt geblieben ist. Zum Vergleich: 2020 hatten die Kindeswohlgefährdungen noch um neun Prozent (+ 5.000) und die Fälle von Hilfebedarf um 13 Prozent zugenommen (+7.500). Geprüft hatten die Behörden zuvor 2020 knapp 194.500 Verdachtsmeldungen, 2021 waren es mit rund 197.800 sogar noch zwei Prozent mehr (+ 3.300). Etwa jedes zweite der rund 59.900 von einer Kindeswohlgefährdung betroffenen Kinder war jünger als acht Jahre (49 Prozent), jedes vierte sogar jünger als vier Jahre (25 Prozent), so die Statistiker weiter. Während Jungen bis zum Alter von elf Jahren etwas häufiger betroffen waren, galt dies ab dem zwölften Lebensjahr für die Mädchen. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern (42 Prozent), bei beiden Eltern gemeinsam (38 Prozent) oder bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft auf (11 Prozent). Die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen nahm zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch und stand somit schon im Kontakt zum Hilfesystem.
In 45 Prozent aller Fälle von Kindeswohlgefährdung hatten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt. Bei knapp einem Fünftel (18 Prozent) gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 13 Prozent wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in weiteren vier Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gefunden. Darüber hinaus meldeten die Jugendämter auch Kinder und Jugendliche, bei denen nicht nur eine, sondern mehrere dieser Arten von Vernachlässigung oder Gewalt gleichzeitig festgestellt wurden.
2021 traf dies auf etwa jeden fünften Fall von Kindeswohlgefährdung zu (21 Prozent). Am häufigsten waren darunter zwei Kombinationen: Vernachlässigungen und psychische Misshandlungen (7 Prozent) sowie körperliche und psychische Misshandlungen (6 Prozent). Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die mehrere Arten von Vernachlässigung und Gewalt zugleich erlebt haben, ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: Lag er im Jahr 2015 noch bei 16 Prozent, betrug er im Jahr 2021 bereits 21 Prozent. Die meisten der rund 197.800 Gefährdungseinschätzungen wurden im Jahr 2021 von Polizei oder Justizbehörden angeregt (28 Prozent), so das Bundesamt.
Etwas seltener kamen die Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aus der Bevölkerung – also von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym (25 Prozent). Danach folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungshilfe u. a. (13 Prozent). Jeweils etwa ein Zehntel der Hinweise auf die Gefährdungssituation gaben die Schulen (10 Prozent) und die Familien selbst, also die betroffenen Minderjährigen (2 Prozent) oder deren Eltern (7 Prozent). In 30 Prozent aller Meldungen haben die Behörden den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung später bestätigt. In etwa einem Drittel (34 Prozent) der Fälle stellten die Behörden zwar keine Gefährdung, aber Hilfebedarf fest und in etwa einem weiteren Drittel der Fälle (35 Prozent) erwies sich der Verdacht nach Prüfung durch die Fachkräfte als unbegründet. Besonders zuverlässige Hinweisgeber waren hierbei offenbar die betroffenen Minderjährigen selbst: Bei 61 Prozent der Selbstmeldungen von Kindern oder Jugendlichen haben die Jugendämter 2021 den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung anschließend bestätigt. Auch die Meldungen aus der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungshilfe u. a. (50 Prozent) und aus dem Gesundheitswesen (37 Prozent) erwiesen sich besonders oft als zutreffend. Im ersten Corona-Jahr 2020 war aufgefallen, dass die Meldungen von Schulen um 1,5 Prozent zurückgegangen waren (‑300 Fälle).
Die neuen Daten zeigen nun für das zweite Jahr der Pandemie wieder eine Zunahme der Verdachtsmeldungen von Schulen, und zwar um fünf Prozent (+ 1.000 Fälle). Allerdings liegt dieser Anstieg deutlich unter denen der letzten beiden Vorkrisenjahre: Im Jahr 2018 hatten die Verdachtsmeldungen von Schulen um 15 Prozent (+2.100 Fälle) und 2019 um 17 Prozent zugenommen (+2.800 Fälle).
Foto: Kinder (dts)