Gauck fürchtet gesellschaftliche Kluft in Deutschland

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sorgt sich um die Widerstandsfähigkeit der Demokratie in Deutschland. Die große außenpolitische Bedrohung durch Russland treffe die Gesellschaft „in einem Zustand erheblicher Verunsicherung und Selbstbefragung“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstagausgabe).

Er warnt vor einer zunehmenden Kluft zwischen progressiven Kräften, die seiner Ansicht nach mit ihren Fortschrittsmodellen ins Absolute abzudriften drohten, und Gruppen, die sich von den Veränderungen der Moderne überfordert fühlten. „Unter dem Eindruck gleich mehrerer Krisen fremdeln Bevölkerungsgruppen, die traditionell und sicherheitsorientiert sind, mit der immer größeren Vielfalt in unserer offenen Gesellschaft und verlangen ein effektiveres Handeln und eine robustere Führung“, sagte Gauck. „Auf der anderen Seite entwickeln Teile einer progressiven, universitären Elite gruppenzentrierte Fortschrittsmodelle, in denen die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte relativiert oder negiert und die Aufklärung gar als ein Element westlicher Dominanz dargestellt wird.“ Es sei wichtig zu begreifen, „dass sich nicht alle in gleichem Umfang und in gleichem Tempo dem forcierten Wandel, den technischen Innovationen und den neuen geopolitischen Realitäten anpassen und – wie auch in früheren Zeiten – in unpolitischen Individualismus flüchten“, sagte Gauck. Der Rat, den der frühere Bundespräsident daraus ableitet: „Wir müssen immer einen Weg suchen zwischen dem Frust und den Ängsten der einen und den fast missionarischen Absichten der Erneuerer.“ In Zeiten des forcierten Wandels schlage „die große Stunde der Verführer und der Nationalisten“, warnt Gauck, „weil sich die Menschen dann stärker ängstigen“. Demokratische Parteien dürften Themen nicht ignorieren, die nennenswerte Bevölkerungsgruppen verunsicherten. „Sie müssen und können sie als Wähler zurückgewinnen.“ Gauck spricht sich auch dafür aus, die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken. „Wir sind auf eine erschreckenden Weise auf die Hilfe der USA angewiesen, wenn es um Verteidigung geht.“ Dass es in Deutschland Mehrheiten für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und die Stärkung der Bundeswehr gibt, nennt er „eine erfreuliche Entwicklung“. Diese Einstellung könne aber verblassen, so Gauck.

„Deshalb erwarte ich, dass wir noch stärker die Gründe für unsere Unterstützung der Ukraine kommunizieren. Wir müssen unsere Freiheit verteidigen. Wir wollen nicht in den Krieg ziehen, aber wir wollen auch nicht mit Krieg überzogen werden.“ Die Demokratie müsse wehrhaft sein, wenn sie überleben wolle, sagte Gauck.

„Was wir lieben und achten, müssen wir auch verteidigen.“

Foto: Joachim Gauck [dts]

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