Der neue Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Jörg Dittrich, fordert eine stärkere Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt auch von Menschen, die bislang keine Berufsqualifikation haben. „Es geht bei der Zuwanderung nicht darum, in Vietnam den perfekt ausgebildeten Elektroniker für Gebäudesystemintegration zu finden, sondern um junge Leute, die bereit sind, in Deutschland ein Handwerk zu lernen und hier zu arbeiten“, sagte er der „Bild am Sonntag“.
Von der Politik erwarte er mehr Unterstützung. „Visa müssen schneller vergeben werden und wer hier gebraucht wird, sollte dauerhaft ein Aufenthaltsrecht ohne hohe bürokratische Hürden wie derzeit bekommen.“ Dem Handwerk fehlten aktuell 250.000 Fachkräfte, so Dittrich. „Und die Zahl steigt täglich, denn auch bei uns kommen die Babyboomer jetzt ins Rentenalter.“
Allein in den nächsten fünf Jahren stünden 125.000 Betriebsnachfolgen an. Ein durchschnittlicher Handwerksbetrieb habe fünf bis sieben Mitarbeiter. „Es geht also um die Zukunft von rund 750.000 Arbeitsplätzen.“ Wegen dieser Mangelsituation erwartet Dittrich einen deutlichen Anstieg der Wartezeiten.
„Ich kann nicht ausschließen, dass wir in einem Jahr nicht mehr drei, sondern sechs Monate auf einen Handwerker warten müssen“, so Dittrich. „Es ist schon lange nicht mehr fünf vor, sondern zwei nach zwölf. Wir haben in Deutschland zu wenige Leute, die eine handwerkliche Ausbildung machen. Wir laufen sehenden Auges in eine extreme Mangelsituation. Wenn wir hier nicht endlich umdenken und gegensteuern, dann werden Betriebe nur deshalb schließen müssen, weil es nicht genügend Fachkräfte gibt.“
Der Politik wirft Dittrich eine Benachteiligung der Handwerksausbildung vor. „Die duale Berufsausbildung ist mindestens so gut wie die universitäre.“ Sie werde aber „systematisch schlechter gestellt und nicht gleichwertig unterstützt“.
Bachelor-Absolventen etwa behandele man anders als Meister, obwohl die Qualifikation gleichwertig sei und im deutschen Qualifikationsrahmen auf demselben Niveau liege. „Es gibt vergünstigte ÖPNV-Tickets und Studentenwohnheime in Universitätsstädten, aber keinen Zuschuss zum Führerschein für angehende Handwerker auf dem Land im Sinne einer Mobilitätshilfe oder aber Wohnheime für Azubis“, so Dittrich. „Das ist schlicht unfair. Die Politik muss endlich für eine echte gleichwertige Behandlung von akademischer und dualer Ausbildung sorgen.“
Auf die Frage, ob Handwerker auch später in Rente gehen müssten, antwortet Dittrich: „Ein Dachdecker kann nicht 50 Jahre lang bis 67 auf dem Dach arbeiten. Aber deswegen auch alle Sachbearbeiter mit 60 oder 63 in den Ruhestand zu schicken, halte ich für falsch. Unser Rentensystem braucht keine einheitlichen Grenzen mehr, sondern mehr Flexibilität.“
Foto: Arbeitsamt [dts]