Die Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die sogenannten Wirtschaftsweisen, haben am Mittwoch ihr Jahresgutachten vorgelegt. Die wesentlichen Inhalte waren schon am Montag von mehreren Medien veröffentlicht worden.
So beklagen die Ökonomen, dass die bisher beschlossenen oder geplanten Maßnahmen zur Bewältigung der Energiekrise nicht „zielgenau“ seien, weil sie wie zum Beispiel der Tankrabatt die Energiesparanreize schwächten oder im „großen Umfang“ auch einkommensstarken Haushalten zufließen, die die Belastungen selbst tragen könnten. Mehrere Änderungen seien deshalb nötig. „Der Ausgleich der kalten Progression ist steuersystematisch zwar grundsätzlich geboten“, sagte Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates, „aktuell geht es aber um eine zielgenaue Entlastung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, und die öffentlichen Haushalte sollten nicht überstrapaziert werden.“ Daher sollte der Abbau der kalten Progression auf einen „späteren Zeitpunkt“ verschoben werden. Zudem schlagen die Wirtschaftsweisen vor, „einkommensstarke Haushalte“ über einen „Energie-Solidaritätszuschlag“ oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes an der Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen zu beteiligen. Die FDP hatte zuletzt allerdings bereits deutlich gemacht, sich in diesen Punkten nicht bewegen zu wollen. Auch ein Aussetzen der Schuldenbremse lehnen die Liberalen ab. Die Wirtschaftsweisen schreiben in ihrem Gutachten, dass sich ein solcher Schritt im Jahr 2023 aufgrund der Folgen der Energiekrise erneut „rechtfertigen“ ließe. Die stattdessen vorgesehene Verschiebung von Finanzierungsaufgaben in das Sondervermögen Wirtschaftsstabilisierungsfonds könnte zwar insgesamt die schuldenfinanzierten Ausgaben stärker auf Energiepreisentlastungen begrenzen, sie reduziere jedoch die „Transparenz des Bundeshaushalts“ und sei unter diesem Gesichtspunkt „kritisch zu bewerten“. Mit Blick auf den Anstieg der Energiepreise schreiben die Ökonomen, dass die Energieknappheit durch eine Ausweitung des Angebots und Einsparungen bekämpft werden solle. Bei der Atomkraft sind die Experten für eine weitere Laufzeitverlängerung, was vor allem bei den Grünen auf Ablehnung stoßen dürfte. Eine Verlängerung über den 15. April 2023 hinaus würde „zu einer Entspannung des Strommarktes beitragen“, heißt es im Jahresgutachten.
Für eine solche Verlängerung wären „umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen“ notwendig. Laut TÜV Süd stünden einem Weiterbetrieb des AKW Isar 2 allerdings keine „sicherheitstechnischen Bedenken“ entgegen und etwaige Maßnahmen könnten betriebsbegleitend umgesetzt werden. „Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung sorgfältig prüfen, ob eine Laufzeitverlängerung über den 15. April 2023 hinaus möglich ist“, so die Wirtschaftsweisen. Insgesamt gehen die Ökonomen davon aus, dass die hohen Energiepreise die deutsche Konjunktur stark belasten werden.
Der Sachverständigenrat erwartet für 2022 nur noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,7 Prozent und für 2023 einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent. Im Jahr 2023 dürften Exporte und Investitionen der Unternehmen aber allmählich wieder zunehmen. Außerdem sei zu erwarten, dass die Lieferengpässe langsam nachlassen und der hohe Auftragsbestand der Industrie abgearbeitet werde. Der Sachverständigenrat rechnet zudem mit einer Inflationsrate von 8,0 Prozent für das Jahr 2022 sowie von 7,4 Prozent für das Jahr 2023.
Hohe Inflationsraten dämpften das Wirtschaftswachstum und könnten sich negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken, so das Expertengremium. Sie könnten auch die Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen der Unternehmen nachteilig beeinflussen. „Die EZB muss daher weiterhin entschlossen handeln“, sagte die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier. „Die Kunst dabei ist, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht.“
Der Sachverständigenrat sprach auch Empfehlungen zum Umgang mit dem Fachkräftemangel aus. „Es fehlen derzeit viele Fachkräfte und selbst ungelernte Arbeitskräfte“, sagte der Wirtschaftsweise Martin Werding. „Ohne zusätzliche Erwerbsmigration und berufliche Weiterbildung bleiben die Fachkräfteengpässe dauerhaft bestehen und nehmen zu.“ Über Umschulungen und Weiterqualifizierungen könnten vom Strukturwandel betroffene Beschäftigte für andere Tätigkeiten qualifiziert werden, um zu verhindern, dass sie arbeitslos werden. Das berufliche Weiterbildungsangebot sollte dazu durch „bundesweite Mindestqualitätsstandards“ verbessert und die Finanzierung etwa durch eine Ausweitung der Bildungszeit gefördert werden, so die Experten. Ergänzend solle die Erwerbsmigration erleichtert werden, indem die Gleichwertigkeitsprüfung der Abschlüsse für nicht-reglementierte Berufe „deutlich vereinfacht oder abgeschafft“ und die Westbalkanregelung auf „ausgewählte Länder“ ausgeweitet werden, heißt es im Bericht der Ökonomen.
Foto: Stahlproduktion [dts]