Die Historikerin Anne Applebaum hat die deutsche Russlandpolitik scharf kritisiert. „Nach 1945 und bis vor Kurzem hatte Deutschland keine geopolitische Strategie“, sagte Applebaum dem „Stern“.
„Wandel durch Handel, der Slogan der Ostpolitik, bedeutete im Kern: Man kann mit jedem Geschäfte machen, auch wenn es politischen Erwägungen total zuwiderläuft“, erklärte die gebürtige US-Bürgerin, die auch eine polnische Staatsbürgerschaft hält. „Man muss sich das vorstellen: Zur selben Zeit, als die ersten Pipeline-Deals zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion geschlossen wurden, finanzierten die Sowjets die RAF, war ein DDR-Spion persönlicher Referent von Kanzler Willy Brandt.“
Applebaum gilt als eine der führenden Kennerinnen Osteuropas und Russlands. Am 20. Oktober soll ihr in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen werden. Sie warnt schon lange vor Wladimir Putin und dessen aggressiver Politik – und kritisiert zugleich die Deutschen für ihren zu einseitigen Blick auf die Geschichte.
Hinsichtlich des Jahres 1989 sagte sie, die Deutschen sähen darin die friedliche Wende. „Andere betrachten diese Zeit ganz anders. Für die Polen ist 1989 das Ergebnis von 30 Jahren zivilgesellschaftlichem Widerstand“, so Applebaum. Für die Einwohner der USA „die Folge von 40 Jahren militärischem Engagement in Europa.“ Und sie warnt: „Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, dann werden auch die Deutschen die Folgen spüren.“
Foto: Containerschiff in Wilhelmshaven (Archiv) [dts]