Ein neues, pessimistisches Lagebild aus westlichen Nachrichtendiensten zum Krieg in der Ukraine ist von deutschen Abgeordneten teils mit Zustimmung, teils mit Skepsis aufgenommen worden. In der Einschätzung, über die die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS) berichtet, heißt es, im Augenblick „verdüstere“ sich infolge russischer Übermacht „das Gesamtbild“ für die Ukraine.
Roderich Kiesewetter (CDU), der stellvertretende Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Nachrichtendienste, bestätigte zwar, dass die Ukraine bei Munition und Mobilmachung Probleme habe. Er sagte aber auch, im Augenblick würden pessimistische Lagebilder „gestreut“, um „zu suggerieren, dass die Situation aussichtslos ist und eine militärische Unterstützung nichts mehr bringt“. Damit wolle man Kiew „subtil, aber grausam“ zu „Gebietsabtretungen“ drängen.
Der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner, auch er ein Mitglied des Kontrollgremiums, sagte dagegen, „im Kern“ sei die Einschätzung der Dienste zutreffend und decke sich „mit dem, was ich weiß“. In der nachrichtendienstlichen Einschätzung heißt es, man erwarte nicht, dass es Kiew 2024 noch gelingen werde, „die Initiative zurückzugewinnen“. Vermutlich werde die Ukraine bis zum Jahresende noch „deutlich größere Geländeverluste“ erleiden als in den Monaten seit Januar. Der Artillerieeinsatz der Russen sei „deutlich“ stärker als jener der Ukrainer, und vor allem könne Russland seine Verluste „mehr als ausgleichen“.
Kiew dagegen sei nicht in der Lage, genug neue Soldaten einzuberufen, „um Verluste auszugleichen und Reserven zu bilden“. Die neuen Regeln zur Mobilmachung würden erst „Ende des Sommers Auswirkungen haben“, weil die Rekruten erst einmal ausgebildet werden müssten. Die erwarteten Geländeverluste der Ukraine sind dieser Einschätzung nach eine Folge der jetzigen „defensiven Ausrichtung der ukrainischen Streitkräfte und damit verbundener Verzögerungsgefechte“. Die Ukraine wolle „Personal schonen“ und kaufe gerade „Zeit durch Preisgabe von Raum“. Kiew hoffe, dadurch „Zeit für Mobilmachung und zum Wiederaufbau des eigenen MIK“, also des „Militärisch-Industriellen Komplexes“, zu gewinnen. Allerdings könnten Russlands Luftangriffe auf den „MIK“ zum „Problem“ werden.
Kiesewetter kommentierte diese Einschätzung der FAS gegenüber mit den Worten, die Ukraine könne zwar „weiterhin siegen“, aber durch „jedes Verzögern der Unterstützung“ aus Deutschland und anderen Ländern werde das „schwieriger und verlustreicher“. Das „Narrativ“ von der Aussichtslosigkeit des Widerstandes könne nur überwunden werden, wenn man die Losung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), man werde der Ukraine „so lange wie nötig“ helfen, durch ein „all in“ ersetze. Beispielsweise müsse man der Ukraine Angriffe mit westlichen Waffen auf russische „Produktionsstätten“, „Depots“ und „Bereitstellungsräume“ in Russland selbst erlauben. Die „roten Linien“ müssten verschwinden, die Rüstungsproduktion müsse „angekurbelt“ werden.
Stegner dagegen sagte der FAS, manche „Hardliner“ sagten immer nur: „Wenn wir nicht mehr Waffen liefern, wird die Ukraine verlieren.“ Ihre Hypothese sei, man könne „Putin militärisch an den Verhandlungstisch zwingen“. Die fehlgeschlagene Offensive der Ukraine im letzten Jahr habe aber gezeigt: „Man kann und muss verhindern, dass die Ukraine verliert, aber nicht erreichen, dass sie gewinnt.“ Wer immer nur fordere, „die Waffe A müsse schneller geliefert werden und die Waffe B in noch größerer Menge“, laufe „Illusionen“ nach. „Immer nur die Dosis zu erhöhen, wenn das Medikament nicht wirkt“, sei „nicht überzeugend“.
Foto: Schild „Stand with Ukraine“ liegt auf dem Boden (Archiv) [dts]