Das Bundesinnenministerium rechnet eher nicht mit einer weiteren starken Fluchtbewegung aus der Ukraine. „Ein erneut größerer Zustrom ukrainischer Geflüchteter als Konsequenz einer kritischen Entwicklung des Kriegsgeschehens lässt sich nicht prognostizieren“, teilte das Ressort von Nancy Faeser (SPD) mit, wie die „Welt“ in ihrer Montagausgabe berichtet.
„In den vergangenen zwei Jahren haben die bisherigen Frontverschiebungen nicht zu einem größeren Zustrom von Geflüchteten, wie zu Beginn des Angriffskrieges, geführt.“ Der Migrationsexperte Gerald Knaus hält es für möglich, dass es zu weiteren massiven Fluchtbewegungen kommen könnte. „Wir sollten es ernst nehmen, wenn in den Kreml-nahen Talkshows ganz offen die Massenvertreibung von weiteren zehn Millionen Ukrainern gefordert wird. Putin weiß, dass der Verlust derart vieler Menschen die Ukraine zerstört und dass ihre Flucht die migrations- und EU-feindlichen Parteien in Europa stärkt“, sagte Knaus der „Welt“.
Die grauenhaften Erfahrungen in der Ostukraine, aber auch schon in Tschetschenien oder Aleppo, wo überall massenhaft Menschen vertrieben wurden, zeigten: „Es ist wirklich die russische Strategie, nicht auf Überzeugung der Eroberten zu setzen, sondern auf Massaker und Vertreibung.“ Aus Befragungen wisse man, dass die meisten Ukrainer im Land bleiben möchten, „aber wenn durch russische Bomben im eisigen Winter die Heizung nicht mehr angeht, dann kann eine Fluchtwelle auch mal ganz schnell gehen“. Russland greife gezielt die Heizungs-Infrastruktur an und werde dies im kommenden Winter auch tun, wenn seine Streitkräfte nicht aufgehalten würden.
Elisabeth Haslund, Sprecherin der UNHCR-Mission in Kiew, sagte der „Welt“: „Derzeit beobachten wir nicht, dass viele Menschen die Ukraine verlassen, aber es fliehen permanent Leute innerhalb des Landes, beispielsweise aus dem Osten in die Zentral- oder West-Ukraine.“ Alleine das täglich attackierte Charkiw beherberge derzeit fast 500.000 aus anderen Orten vertriebene Ukrainer, etwa aus Donezk. „Die Mehrheit der sechs Millionen außer Landes geflohenen Ukrainer, verließ das Land in den ersten Monaten nach der großen Invasion 2022, seither sind die Migrationsbewegungen mehr oder weniger zirkulär“, sagt Haslund. Dies könne das UNHCR anhand der Grenzübertrittsdaten der benachbarten Staaten ablesen.
Laut der UNHCR-Sprecherin hatten viele der direkt nach der russischen Invasion geflohenen Ukrainer Netzwerke, Familie oder Freunde im Ausland gehabt. Unter jenen bis heute im Land verbliebenen Menschen gebe es den starken Wunsch, in der Ukraine zu bleiben. „Wir haben schon heute 3,7 Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine.“
Foto: Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine in Deutschland (Archiv) [dts]