Ein EU-Beitritt der Ukraine und sieben weiterer Beitrittskandidaten könnte das europäische Machtgefüge stark verschieben. Das zeigt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die am Dienstag veröffentlicht wurde. Liberale Staaten würden demnach an Einfluss verlieren.
Nicht nur die Ukraine – insgesamt acht Beitrittskandidaten verhandeln mit der EU um einen Beitritt, darunter Albanien, Serbien oder die Republik Moldau. Ist die Erweiterung erfolgreich, würde die EU von 27 auf 35 Mitgliedsländer wachsen. Die Machtverhältnisse würden sich dann stark verändern, wie die IW-Analyse zeigt – mit erheblichen Folgen auch für Deutschland.
Im EU-Parlament würde den neuen Mitgliedern nach IW-Berechnungen ein Sechstel aller Sitze zustehen. Die Ukraine würde mit 48 Sitzen die fünftgrößte nationale Delegation stellen. Die Gründungsstaaten würden dagegen an Einfluss verlieren: Deutschland müsste fünf Sitze abgeben, die Delegation Italiens würde sogar um etwa zehn Prozent schrumpfen.
In der EU-Kommission gilt heute: ein Land, ein Kommissar. Bleibt es bei dieser Regelung, dürfte die EU-Exekutive auf 35 Mitglieder anwachsen – sie wäre mehr als doppelt so groß wie die Bundesregierung. Dann würde es in der Kommission unübersichtlich, der Koordinationsaufwand könnte deutlich steigen.
Im Ministerrat, in dem die Mitgliedstaaten entscheiden, dürfte sich laut IW der Ton verändern – hin zu weniger wirtschaftlicher Freiheit: Nach einem Ranking der Heritage Foundation lag die Ukraine vor dem Krieg bei der wirtschaftlichen Freiheit weltweit auf Platz 127, Moldau im vergangenen Jahr auf Rang 96. Bei den anderen Kandidaten sieht es ähnlich aus. Für den liberalen Block, zu dem Deutschland zählt, würde es deutlich schwerer, Entscheidungen durchzusetzen oder zu verhindern – etwa in der Fiskalpolitik.
Die meisten Abstimmungen im Ministerrat erfolgen mit qualifizierter Mehrheit, das heißt: für eine Verabschiedung braucht es die Stimmen von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. In der Außen- und Sicherheitspolitik und bei Steuerfragen gilt allerdings Einstimmigkeit – mit jedem neuen Mitglied wird der Entscheidungsprozess schwieriger. In strittigen Fragen drohen langwierige Verhandlungen ohne Erfolgsgarantie.
„Ein Beitritt der Ukraine und der weiteren Kandidaten ist politisch grundsätzlich richtig und ökonomisch nach einer angemessenen Übergangs- und Anpassungzeiten sinnvoll“, sagte IW-Europaexperte Julian Sommer. „Er wird ohne eine politische Reform der EU aber nicht möglich sein.“ Die EU müsse auch in strittigen Fragen Entscheidungen durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen herbeiführen. „Wenn der Europäische Rat an der Einstimmigkeit festhält, droht Europa sich in wichtigen Außen- und Sicherheitsfragen selbst zu lähmen.“
Foto: EU-Parlament in Straßburg (Archiv) [dts]