Nachdem die Zahl der Inobhutnahmen bereits im Jahr 2021 leicht gestiegen war, hat sich die Entwicklung 2022 deutlich verstärkt. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Montag mitteilte, nahmen die Jugendämter in Deutschland im vergangenen Jahr über 66.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut.
Das waren im Vergleich zum Vorjahr rund 18.900 Fälle oder 40 Prozent mehr. Bereits 2021 war die Zahl der Inobhutnahmen um 2.100 Fälle beziehungsweise fünf Prozent gestiegen. Hauptgrund für den Anstieg war in beiden Jahren ein wachsendes Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland: Während jedoch die Zahl der Inobhutnahmen aus diesem Grund im Jahr 2021 lediglich um 3.700 Fälle zugenommen hatte (+49 Prozent), stieg sie im Jahr 2022 um 17.300 Fälle (+153 Prozent). Schon im Zuge der Fluchtmigration ab 2015 waren die Fallzahlen durch das Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen stark gestiegen: Damals wurde der Höchststand im Jahr 2016 mit rund 84.200 Inobhutnahmen erreicht, darunter waren rund 44.900 Fälle nach unbegleiteten Einreisen.
Als Reaktion darauf führte der Gesetzgeber ein neues Verfahren ein, wonach die Betroffenen unmittelbar nach der Einreise zunächst vorläufig in Obhut genommen werden, um sie anschließend auf alle Jugendämter im Bundesgebiet zur regulären Inobhutnahme zu verteilen. Obwohl ab 2017 beide Verfahren in der Statistik zählen – sowohl vorläufige als auch reguläre Inobhutnahmen nach unbegleiteter Einreise – waren die Fallzahlen seitdem zunächst gesunken, erst 2021 setzte ein erneuter Anstieg ein, der nun im Jahr 2022 zu 28.600 Inobhutnahmen nach unbegleiteter Einreise führte. Davon waren 19.100 vorläufige und 9.500 reguläre Inobhutnahmen. Angaben zu den Herkunftsländern der unbegleitet eingereisten Minderjährigen liegen der Kinder- und Jugendhilfestatistik nicht vor, aus dem aktuellen „Bericht der Bundesregierung über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland“ geht allerdings hervor, dass die meisten unbegleitet eingereisten Minderjährigen in den Jahren 2021 und 2022 aus Afghanistan und Syrien kamen.
Die Ukraine spielte demnach im Jahr 2022 als Herkunftsland offenbar eine eher untergeordnete Rolle. Zum aktuellen Anstieg haben aber noch weitere Entwicklungen beigetragen: Nach einem Rückgang in den Corona-Jahren 2020 und 2021 nahmen 2022 auch erstmals wieder die Inobhutnahmen wegen dringender Kindeswohlgefährdung zu – und zwar um 1.300 Fälle oder fünf Prozent, so die Statistiker. Außerdem wandten sich 2022 wieder mehr Kinder und Jugendliche selbst mit der Bitte um eine Inobhutnahme an das Jugendamt (+300 Fälle bzw. +vier Prozent). Insgesamt haben die Jugendämter damit 2022 die meisten Inobhutnahmen – nämlich rund 29.800 Fälle – wegen dringender Kindeswohlgefährdungen durchgeführt.
In 28.600 Fällen handelte es sich um Inobhutnahmen nach unbegleiteten Einreisen und in 8.000 Fällen hatten die betroffenen Minderjährigen selbst um Inobhutnahme gebeten. Infolge der Entwicklungen wurde die unbegleitete Einreise im Jahr 2022 auch bei den insgesamt 13 möglichen Anlässen für eine Inobhutnahme mit Abstand am häufigsten genannt (43 Prozent). Die Überforderung der Eltern – im Vorjahr noch an erster Stelle der möglichen Anlässe – rückte dadurch 2022 auf Rang 2 (26 Prozent). Dahinter folgten Anzeichen für Vernachlässigungen (11 Prozent) und körperliche Misshandlungen (10 Prozent).
Dabei waren die betroffenen Jungen oder Mädchen vor der Inobhutnahme in knapp jedem fünften Fall (18 Prozent) von zu Hause ausgerissen. Die meisten betroffenen Jungen oder Mädchen wurden vor der Inobhutnahme von beiden Eltern gemeinsam (25 Prozent), einem alleinerziehenden Elternteil (17 Prozent) oder in einem Heim betreut (12 Prozent), so das Bundesamt weiter. Bei etwa einem Fünftel (21 Prozent) war der vorherige Aufenthalt unbekannt, das trifft insbesondere auf unbegleitet Eingereiste zu. Fast jede zweite Inobhutnahme (48 Prozent) konnte nach spätestens zwei Wochen, jede dritte (33 Prozent) nach einer Woche beendet werden.
Dennoch: Gut jede zehnte Inobhutnahme dauerte mit drei Monaten oder mehr vergleichsweise lang (11 Prozent). Nach Beendigung der Maßnahme kehrte über ein Drittel der Kinder und Jugendlichen (37 Prozent) an den bisherigen Lebensmittelpunkt – zu den Sorgeberechtigten, in die Pflegefamilie oder das Heim – zurück. Gut ein weiteres Drittel (36 Prozent) bekam ein neues Zuhause in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohnform. Bei insgesamt zehn der 13 möglichen Anlässe für eine Inobhutnahme sind die Fallzahlen 2022 gestiegen: Abgesehen von der unbegleiteten Einreise waren die stärksten Anstiege bei Anzeichen für Vernachlässigungen (+928 Nennungen, +14 Prozent), körperlichen Misshandlungen (+592 Nennungen, +10 Prozent)und Delinquenz oder Straftaten der Minderjährigen (+517 Nennungen, +17 Prozent) zu verzeichnen.
Foto: Kinder [dts]