Berlin/Kiew – Führende Militärexperten in Deutschland rechnen mit einer Verschärfung der russischen Offensive in der Ukraine. „Der Kremlchef hat die Eskalationsdominanz. Nur Russland kann jeden Tag mehr Artillerie, mehr Panzer, mehr Schiffe und mehr Flugzeuge schicken. Die Ukraine kann hingegen nicht eskalieren“, sagte der ehemalige Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
„Gemessen an Putins strategischem Ziel reicht ihm die Eroberung des Donbass nicht“, so Domröse, der auch Oberbefehlshaber eines NATO-Kommandos war. „Meine Befürchtung: Wenn Putin nicht die gesamte Ukraine bekommt, zielt er auf Dnipro, Saporischja, Cherson und am Ende Odessa ab. Er will die Ukraine vom Wasser abschneiden. Wenn Putin das gelänge, wäre die Ukraine in einer geografisch eingeschlossenen Lage wie Afghanistan.“
Carlo Masala von der Hochschule der Bundeswehr in München geht davon aus, dass Putin unverändert vorhabe, die ukrainische Regierung zu stürzen. „Der Kreml hat gerade noch einmal deutlich gemacht, dass die strategischen Ziele `Entnazifizierung` und `Demilitarisierung` nicht vom Tisch sind. Es geht immer noch darum, die Regierung von Wolodymyr Selenskyj durch ein russlandfreundliches Satellitenregime zu ersetzen“, sagte Masala den Funke-Blättern.
Sollten die Russen irgendwann auch den Bezirk Donezk einnehmen, rechne er damit, dass Putin Friedensverhandlungen und einen Waffenstillstand anbietet, so der Politikwissenschaftler. „Es wäre ein taktischer Zug, um Zeit für die Regeneration der russischen Truppen zu bekommen.“ Masala befürchtet einen „heißen Herbst“, wenn Russland die Gas-Lieferungen weiter reduziert.
Dann „werden die westlichen Gesellschaften ihre Politiker dazu drängen, die Unterstützung der Ukraine zurückzufahren. Es ist Putins Kalkül, Teile Westeuropas in die Knie zu zwingen“. Auch Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations warnt vor einem weiteren russischen Vormarsch. „Das politische Ziel Russlands, die Ukraine als Ganzes zu vernichten und sich einzuverleiben, steht nach wie vor“, so Gressel den Funke-Zeitungen.
„Derzeit kann Russland seine Überlegenheit an Feuerkraft ausspielen. Waffenlieferungen aus dem Westen sind in der Qualität gut, aber in der Quantität noch ungenügend. Wenn das so weitergeht, wird es für Russland zwar weiterhin blutig, aber es ist ein langsamer, blutiger Weg zum Sieg.“ Der ehemalige Bundeswehr-Brigadegeneral und militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Erich Vad, rechnet hingegen nach der Besetzung des Gebiets Donezk durch Russland mit einer „operativen Pause“.
Diese Pause könnte die „letzte Chance für diplomatische Verhandlungen“ sein, so Vad gegenüber Funke. „Ein Verhandlungskompromiss könnte so aussehen, dass Kiew den Gebieten Donezk und Luhansk weitestgehende Autonomie innerhalb des ukrainischen Staatsverbundes gewährt.“ Dafür behielte die Ukraine den für den Außenhandel wichtigen Schwarzmeer-Hafen Odessa. „Den Konflikt um die Krim müsste man wegen der strategischen Interessen Russlands einschließlich der Schwarzmeer-Flotte in die Zukunft vertagen“, so Vad.
Foto: Russische Luftaufnahme (dts)